UKRAINEKRIEG: NEUE EU-RESOLUTION BRINGT EUROPA AN DEN RAND DES DRITTEN WELTKRIEGS
Das Europaparlament hat einen Aufruf zur Unterstützung der Ukraine verabschiedet. Doch der Inhalt gleicht beinahe einem Aufruf zum 3. Weltkrieg. Ein
Gastbeitrag.
29.11.2024 aktualisiert am 29.11.2024 - 20:20 Uhr
Am Donnerstag verabschiedete das Europäische Parlament eine weitere Resolution mit dem martialisch anmutenden Titel „Verstärkung der unerschütterlichen
Unterstützung der EU für die Ukraine gegen Russlands Angriffskrieg und die zunehmende militärische Zusammenarbeit zwischen Nordkorea und Russland“. Diese Resolution wurde mit einer
Mehrheit aus Konservativen, Sozialisten, Liberalen und Grünen angenommen. Die darin enthaltenen Forderungen lassen selbst einem neutralen Beobachter das Blut in den Adern gefrieren.
Bereits im Juli hatte das Parlament eine Resolution verabschiedet, in der faktisch zu einem totalen Krieg gegen Russland ausgerufen wurde. Doch diese neue
Resolution geht noch weiter – sie gleicht beinahe einem Aufruf zum Dritten Weltkrieg.
EU-Resolution kennt nur Eskalation – kein Ansatz für Diplomatie
Das Europäische Parlament erklärt darin, dass die Drohungen Russlands, auf Angriffe mit Nuklearschlägen zu reagieren, die EU keinesfalls davon abhalten würden, die
Ukraine weiterhin militärisch zu unterstützen. Und dann wird es konkret: Gefordert werden die sofortige Lieferung von Kampfflugzeugen und Langstrecken-Marschflugkörpern, einschließlich der
Taurus-Marschflugkörper. Bemerkenswert ist, dass die Resolution keinerlei Einschränkungen für den Einsatz dieser Waffen vorsieht – ganz Russland könnte somit zum Ziel erklärt werden.
Lobend wird angemerkt, dass Frankreich, das Vereinigte Königreich und die USA ihre Marschflugkörper (SCALP, Storm Shadow und ATACMS) bereits für Angriffe auf
russisches Gebiet freigegeben haben. Dass diese hochkomplexen Waffensysteme in der Regel von Nato-Soldaten bedient werden müssen und dies somit eine direkte Nato-Beteiligung im Ukrainekrieg
bedeuten würde, wird in der Resolution nicht erwähnt. Auch die möglichen Reaktionen Russlands auf eine solche Eskalation bleiben unerwähnt.
Von der Gefahr, dass ein direkter Nato-Angriff auf Russland einen Dritten Weltkrieg und möglicherweise einen nuklearen Konflikt auslösen könnte, findet sich kein
Wort. Ebenso wenig wird thematisiert, dass ein solcher Krieg zwangsläufig auf europäischem Boden ausgetragen werden würde und welche verheerenden Konsequenzen das für die europäischen Bürger
hätte. Doch warum auch? Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments agieren in einer abgeschotteten Blase, die offenbar längst den Bezug zur Realität außerhalb ihrer Institution verloren
hat.
Die 13-seitige Resolution liest sich wie eine Liste aus Anschuldigungen, Drohungen, Forderungen nach Waffen- und Munitionslieferungen, Bitten um mehr Geld für den
Krieg und Aufrufen zu weiteren Sanktionen. Doch eine Sache fehlt gänzlich: ein Ansatz für eine friedliche Lösung des Konflikts. Kein einziger Satz ist diplomatischen Schritten oder Verhandlungen
gewidmet. Das Ziel der Parlamentsmehrheit ist klar: der Sieg über Russland – koste es, was es wolle.
EU-Parlament will Fakten schaffen, bevor Trump seine Arbeit aufnimmt
Die Zeit drängt offenbar. Während der Debatte wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass das Zeitfenster klein sei, da die Amtseinführung von Donald
Trump als US-Präsident bevorsteht. Ziel sei es, Russland in den verbleibenden Wochen noch in die Knie zu zwingen. Zwar fordert die Resolution die EU-Mitgliedsstaaten auf, bei einem künftigen
Präsidenten Trump vorstellig zu werden und ihn von der Notwendigkeit eines Sieges über Russland zu überzeugen. Doch dieser Appell klingt wenig überzeugend. Es könnte gar zu der bizarren Situation
kommen, dass ausgerechnet Trump die Europäer vor der Kriegshysterie ihrer politischen Eliten bewahrt.
Diese Resolution ist ein Dokument voller Hass, Panik und Hysterie – ein beschämender Ausdruck von Verantwortungslosigkeit und Empathielosigkeit für die vielen Opfer
einer derartigen Kriegshysterie. Für uns Europäer gibt es daran nichts, worauf wir stolz sein könnten. Glücklicherweise wird diese Resolution wohl kaum direkte politische Auswirkungen auf den
Ukrainekrieg haben. Das Europäische Parlament hat lediglich erneut unter Beweis gestellt, dass es sich in vielen Fragen wie eine „Entscheidungsattrappe“ verhält – in diesem Fall ein Glück für uns
alle.
Für mich, der ich immer ein glühender Anhänger der europäischen Idee gewesen bin, ist es schmerzhaft, die Debatten einer kriegslüsternen und hasserfüllten
Parlamentsmehrheit mitanzuhören. Ich frage mich dann: Was für ein Monster haben wir mit der EU erschaffen?
Michael von der Schulenburg ist Abgeordneter im Europaparlament für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und ehemaliger Assistant Secretary-General der Vereinten
Nationen. Er hat in vielen Konfliktregionen der Erde gearbeitet, unter anderem bei Langzeitmissionen in Afghanistan, Haiti, Pakistan, Iran, Irak und Sierra Leone, aber auch in Syrien, Somalia,
Zentralasien, auf dem Balkan und in der Sahel-Region. 2017 publizierte er das Buch „On Building Peace – Rescuing the Nation-State and Saving the United Nations“.
„Wenn die Kinder dieser Großmäuler an die Front müssten, wäre der Krieg morgen vorbei“
Lesetipp: Patrik Baab: Propaganda-Presse. Wie uns Medien und Lohnschreiber in Kriege treiben. Verlag Hintergrund, 17. Juli 2024, 128 Seiten, 14,80 Euro.
Ukraine-Krieg: "Schon nach deutscher Einigung waren die Weichen auf Konfrontation gestellt"
Dietmar Ringel,
Petra Erler und Günter Verheugen über die deutsche Einheit und den Ukraine-Krieg. Über Sicherheits- und Kriegsordnungen. Und über die Verantwortung Moskaus.
Ein Telepolis-Podcast.
Wer heute von Verständigung und Entspannung im Verhältnis zu Russland spricht, sieht sich schnell als Putin-Unterstützer oder bestenfalls als nützlicher Idiot
hingestellt. Politiker, die einst auf ein gutes Verhältnis zu Russland setzten, gehen heute in Sack und Asche.
Petra Erler und Günther Verheugen haben eine andere Sicht auf die Dinge. Sie sagen, gescheitert sei eine Politik, die glaubt, auf Entspannung verzichten zu können
und es notfalls auf einen Krieg ankommen zu lassen. Genau das werfen sie in ihrem Buch "Der lange Weg zum Krieg", das vor Kurzem bei Heyne erschienen ist, maßgeblichen Entscheidern im Westen vor
und geben ihnen damit eine Mitschuld am Krieg in der Ukraine.
Petra Erler hat am DDR-Institut für internationale Beziehungen in Potsdam-Babelsberg promoviert, war Staatssekretärin in der letzten DDR-Regierung unter Lothar de
Maizière, später im engsten Mitarbeiterkreis von EU-Kommissar Günther Verheugen. Jetzt leitet sie ein Beratungsunternehmen, schreibt außerdem Bücher und Artikel.
Günther Verheugen war vor seiner Zeit in Brüssel in verschiedenen Führungspositionen in der FDP bzw. SPD. Er war Staatsminister im Auswärtigen Amt, später
Co-Vorsitzender des Transatlantischen Wirtschaftsrates. Auch er ist Autor und Publizist.
Dietmar Ringel hat im Telepolis-Podcast mit beiden gesprochen.
▶ Was hat Sie angetrieben, dieses Buch zu schreiben?
Petra Erler: Ein wesentliches Motiv war, dass wir wieder in eine Diskussion kommen müssen in diesem Land, wie wir in Europa zusammenleben
wollen. Mit Blick auf eine 30-jährige Eiszeit, einen permanenten kalten Krieg, der jederzeit in einen heißen umschlagen kann, oder doch mit einer Politik der Verständigung, die ihre erfolgreichen
Wurzeln in der Vergangenheit hat.
Günter Verheugen: Mein Hauptmotiv war, nicht hinzunehmen, dass in unserem Land eine Mauer des Schweigens errichtet wird. Ich habe es in meinem
langen politischen Leben noch nicht erlebt, dass öffentliche Meinung so einseitig gesteuert wird, wie das im Fall des Ukrainekrieges geschieht. Hier wird eine Erzählung verbreitet, die einfach
nicht stimm. Ich halte es für absolut notwendig, ein Stück Gegenöffentlichkeit herzustellen und unserer Gesellschaft die Möglichkeit zu geben, einen anderen, objektiveren Blick auf das zu
werfen, was geschehen ist. Denn kein Krieg fällt vom Himmel, kein Krieg ist voraussetzungslos. Nur bei diesem Krieg wird so getan, als hätte es keine Vorgeschichte gegeben.
▶ Stichwort Vorgeschichte. Sie schlagen einen weiten Bogen. Wo muss man ansetzen, um zu verstehen, wie es zu dieser Konfrontation kommen konnte?
Petra Erler: Wir haben uns entschieden, nicht 1917 anzufangen, aber schon mit dem Zweiten Weltkrieg und der daraus entstehenden
Nachkriegsordnung. Denn die Wurzeln von allem liegen in der europäischen Teilung und ihrer Überwindung. Wenn man sich den deutschen Einigungsprozess
anguckt, stellt man fest, dass es damals zwei Optionen gab: Eine transatlantische Sicherheitsstruktur von Wladiwostok bis Vancouver. Das war der Geist dessen, was die Europäer und auch die
Amerikaner 1990 noch unterschrieben.
Die zweite Option war, die Russen auszugrenzen und die Nato zu erweitern und damit eine westeuropäisch-transatlantisch dominierte Sicherheitsstruktur zu schaffen.
1994 war die Entscheidung klar. Die Nato wollte bestimmen, wie Sicherheit sich in Europa definiert und umgesetzt wird. Russland wurde nach außen
gedrängt, und alle Versuche, Russland wieder auf einer gleichberechtigten Grundlage ins Gespräch zu bringen, sind gescheitert. Und wenn die Nato heute
sagt, wir haben ein Bündnis, das offen für alle ist, mag das gut und schön sein. Für ein Land galt es nicht, und das war Russland.
Günter Verheugen: Seit 1989, also seit die Möglichkeit der deutschen Einigung sichtbar wurde, stand nicht das
deutsche oder europäische Interesse im Vordergrund, sondern eindeutig das amerikanische. Es sagt vieles, dass die erste Reaktion der Amerikaner nach Kohls Rede im Bundestag damals, wo er eine
deutsche Konföderation anvisiert hatte, war: Unter keinen Umständen darf die Nato infrage gestellt werden. Was im Klartext heißt: Unter keinen Umständen darf die amerikanische Führungsrolle in
Europa infrage gestellt werden.
▶ Es gab viele Chancen für eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und später mit Russland: Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die
Ost-West-Verträge, es gab Rüstungskontrollvereinbarungen, sogar reale Abrüstungsschritte. Warum gab es nicht das Momentum, dass daraus etwas Dauerhaftes wird?
Petra Erler: Die Antwort ist in Washington zu suchen. Als es 1990 die Option gab, eine gemeinsame Sicherheitsstruktur
zu schaffen, war das noch die Politik des alten Präsidenten Bush Senior. Aber schon in den Spätzügen seiner Präsidentschaft gab es Leute, die Russland
am liebsten zerstören wollten, die den Zerfall der Sowjetunion gerne zum Ausgangspunkt genommen hätten, auch Russland zu erledigen. Dahinter versteckt sich jahrzehntelanger, ideologisch bedingter
Russenhass. 1992 hat sich diese Politik noch nicht durchgesetzt, aber 1994 war es vollständig klar, dass die Amerikaner in Europa bleiben wollten und Russland intern als neuen Hauptgegner
definiert hatten. Nicht alle haben die deutsche Einigung mit großer Freude betrachtet, manche hatten Angst vor uns. Was passiert mit diesem großen Land?
Die Idee, die damals noch von Busch und Gorbatschow vertreten wurde, war: Man kann das auch gemeinsam gestalten. Die ist später vollständig verschwunden. Und man muss unserem Land schon den
Vorwurf machen, dass es dabei willig mitgemacht hat.
Günter Verheugen:Ich war ja in den
90er-Jahren dabei, zwar in der Opposition, aber als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Und da konnte ich einigermaßen verfolgen, was passierte.
Mein Eindruck war, dass es im Westen, nicht überall, aber vor allem in weiten Teilen der amerikanischen Politik und Öffentlichkeit, eine Siegermentalität
gab. Das hat Präsident Bush auch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Er hat gesagt, wir haben gewonnen und die haben verloren – Ende der Fahnenstange. Schon kurz nach der deutschen Einigung
gab es keine Bereitschaft mehr, kooperative Strukturen zu schaffen, sondern die Weichen waren auf Konfrontation gestellt.
Das muss man einfach wissen, wenn man darüber nachdenkt, wie wir in diese Lage gekommen sind, in der wir uns heute befinden. Mit einem schrecklichen Krieg in
Europa, der das Potenzial hat, uns alle mit sich zu reißen.
▶ Sie richten schwere Vorwürfe an den Westen. Hat Russland eine Mitverantwortung dafür, dass es so weit gekommen ist?
Petra Erler: Selbstverständlich hat Russland eine Mitverantwortung. Russland hat 2014 die Krim annektiert, und
Russland hat 2022 zum kriegerischen Mittel gegriffen und damit einen Grundsatz verletzt, den es bis dahin im UNO-Sicherheitsrat energisch verteidigt hatte, nämlich das Prinzip des Gewaltverzichts
gegenüber jedem anderen Staat.
Die Frage ist nur: Warum ist das propagandistisch in unserem Land plötzlich als Spezialverbrechen behandelt worden? Die Geschichte seit 1991 ist eine Geschichte von
Regime-Changes und Kriegen, die allesamt vom Westen ausgingen. Warum wurde das Verhalten Russlands dann plötzlich als der Bruch einer angeblichen europäischen Sicherheitsordnung bezeichnet? Als
Beispiel für eine imperiale russische Aggression? Dafür gibt es keine Belege.
Hier zeigt sich, dass diejenigen, die schon 1991 davon träumten, Russland ein für alle Mal kleinzumachen, längst die geistige Oberhoheit gewonnen
hatten.
Russland ist ein Land mit elf Zeitzonen. Es ist nicht nur groß, es ist auch unendlich reich. In der internationalen Politik geht es bei der Betrachtung der
russischen eurasischen Landmasse immer auch um die Frage, wer die Welt beherrschen kann.
Günter Verheugen: Wenn man betrachtet, wann, wie und wo die Krise, in der wir uns heute befinden, wirklich heiß und
explosiv wurde, dann kommen wir in die Jahre 2013 und 2014. Dann sind wir beim sogenannten Maidan, der von vielen jubelnd begrüßt wurde, aber in Wahrheit nichts anderes war als eine
Regime-Change-Operation. Man kann auch sagen, ein von außen gelenkter Staatsstreich.
Und dieser Staatsstreich, dieser Putsch in der Ukraine, war der Ausgangspunkt eines Bürgerkrieges in diesem Land. Wir haben Krieg in der Ukraine nicht erst seit
2022. Wir haben diesen Krieg seit Frühjahr 2014, seit der sogenannten Anti-Terror-Operation gegen die russischen Separatisten im Donbass. 2022 gab es eine Eskalation dieses Krieges, der bereits
andauerte.
▶ Von russischer Seite heißt es, diese Eskalation sei zwangsläufig gewesen, weil russische Sicherheitsinteressen massive verletzt worden seien. Die Ukraine müsse
entnazifiziert und demilitarisiert werden, um Russland zu schützen. Was sagen Sie dazu?
Petra Erler: Gehen wir noch mal ins Jahr 2008 zurück. Wir wissen dank Wikileaks, dass die Amerikaner - und damit wohl
alle anderen auch – gewusst haben, dass die dickste aller roten Linien Russlands darin bestand, die Ukraine in die Nato einzuladen. Zumal die ukrainische Bevölkerung auch mehrheitlich dagegen
war. Es war die Idee des damaligen ukrainischen Präsidenten Juschtschenko, der den Amerikanern damit einen großen Traum erfüllte.
Wir reißen die Ukraine aus dem russischen Orbit, können ganz nah mit unseren militärischen Strukturen an Russland heranrücken und werden auf diese Art und Weise
Russland ins Herz treffen. Das war die Überlegung. Und wir wissen auch, dass der russische Präsident Putin damals ganz deutlich gesagt hat, er wolle sich keine Situation vorstellen, in der
Russland gezwungen sein könnte, seine Waffen gegen die Ukraine zu richten.
Aus dem Jahr 2014 wiederum wissen wir, dass Russland den Separatismus im Donbass keineswegs zum Anlass genommen hat, diese Gebiete zu annektieren. Er hat das sogar
ausdrücklich abgelehnt und war bereit, auf dem Weg des Minsker Abkommens eine friedliche Lösung mit dem Westen zu finden.
Das Minsk-II-Abkommen ist ja unter maßgeblicher Beteiligung von Deutschland und Frankreich zustande gekommen und auch vom UN-Sicherheitsrat gebilligt worden. Es
hieß damals, das sei der Weg zur politischen Lösung des Konflikts in der Ukraine und zur Bewahrung ihrer Staatlichkeit. Die Krim wurde dabei übrigens nicht erwähnt.
Im Jahr 2022 erfuhren wir dann, dass der ukrainische Präsident Poroschenko betrogen hatte, denn er wollte dieses Abkommen nie umsetzen. Und wir erfuhren auch, dass
Hollande als französischer Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin nur auf Zeit spielen wollten, weil sie von einem angeblich unvermeidlichen Krieg Russlands gegen die Ukraine
ausgingen.
Hinzu kommt, dass der ukrainische Nationalismus auf Krieg mit Russland setzte, anstatt in irgendeiner Art und Weise eine Verständigung zu suchen. Übrigens hat die
EU beim Minsker Abkommen eine ganz unrühmliche Rolle gespielt.
Sie hat die Aufhebung ihrer Wirtschaftssanktionen gegen Russland an die Erfüllung des Minsker Abkommens gebunden, was wiederum auch vom Wohlverhalten der Ukraine
abhängig war.
Es ging also nicht nur darum, was die Separatisten im Donbass machen, sondern auch darum, ob in der Ukraine die vereinbarte Verfassungsreform umgesetzt wird, dass
die Kiewer Zentralregierung sich wieder um die Separatistengebiete kümmert– siehe Rentenzahlung, Gesundheitsleistungen oder den Umgang mit auf beiden Seiten begangenem Unrecht. All das ist nicht
passiert, und der Westen hat es geschehen lassen.
▶ Die Minsker Abkommen waren ein diplomatischer Versuch, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu entschärfen. Auch nach Beginn des heißen Krieges im
Frühjahr 2022 gab es Ansätze einer Verständigung. Die russische und die ukrainische Seite sollen sich bereits sehr nahe gewesen sein, heißt es, zum Beispiel bei der Frage einer militärischen
Neutralität der Ukraine. Gerade gibt es ganz sanfte Versuche, die Diplomatie wieder ins Spiel zu bringen. Welche Chancen sehen Sie dafür?
Günter Verheugen: Im Augenblick ist nicht die Stunde der Diplomatie. Es ist ganz eindeutig, dass sich die Reihen des
Westens immer fester schließen. Die jüngsten Entscheidungen lassen für mich nur den Schluss zu, dass die Eskalationsbereitschaft ungebrochen ist. Der jüngste Schritt, der Ukraine zu erlauben, mit
vom Westen gelieferten Waffen das russische Staatsgebiet zu treffen, ist in meinen Augen der bisher gefährlichste Schritt in Richtung auf den Abgrund. Deshalb sieht es im Augenblick nicht so aus,
als wollte der Westen der Diplomatie eine Chance geben.
Trotzdem muss jede auch noch so geringe Möglichkeit genutzt werden. Notwendig wäre es im Augenblick, eine einheitliche, klare europäische Position zu schaffen, die
sagt: Wir wollen mit Russland wieder ins Gespräch kommen, wir müssen feststellen, ob es die Möglichkeit eines Kompromisses gibt.
Wie Sie gesagt haben, gab es ja bereits unmittelbar nach Beginn des Krieges Verhandlungen über seine Beendigung. Und ich will darauf hinweisen, dass sich damals
auch unser Bundeskanzler sehr dezidiert dazu geäußert und immer wieder erklärt hat, wir brauchen eine friedliche, eine diplomatische Lösung. Das hörte alles auf, nachdem der amerikanische
Präsident in Warschau praktisch erklärt hatte, wir befinden uns mit Russland in einem Wirtschaftskrieg.
Ich glaube, dass im Westen seit Jahrzehnten das russische Sicherheitsbedürfnis massiv unterschätzt wird. Der Westen hat bei Russland immer Aggressionsabsichten
vermutet, umgekehrt natürlich auch. Ich glaube nicht, dass das berechtigt war. Was die sowjetische und später die russische Außenpolitik bestimmt hat, ist die historische Erfahrung dieses Landes.
Und die besteht darin, dass es überfallen werden kann und dass man deshalb für seine Sicherheit sorgen muss.
▶ Welche Rolle könnte oder sollte Deutschland spielen, wenn es darum geht, die Diplomatie wieder ins Spiel zu bringen?
Petra Erler: Zunächst würde ich mir wünschen, dass die deutsche Politik wieder zurückkehrt zu einem
Realitätsverständnis und nicht länger in einer Fantasiewelt lebt. Wer überzeugt ist, Russland habe es sich auf die Agenda gesetzt, die Nato zu überfallen, gibt eigenen Ängsten und eigenen
Fantasien nach oder versucht, ein Programm der Kriegstüchtigkeit durchzuziehen.
Wichtig wäre es, wieder auf den Boden der Realität zurückzukehren und sich anzuschauen, wie die Lage heute ist. Wir haben damals einen frühen Friedensschuss mit
verhindert, damit hat sich der Charakter des Krieges geändert. Russland hat zu Recht das Gefühl entwickelt, dass wir es ruinieren, zerschlagen, klein machen, in den Staub der Geschichte treten
wollen. Das ist keine angemessene Politik.
Der sogenannte Rest der Welt, also die Mehrheit der Bevölkerung und der Staaten auf dieser Welt, erkennen das. Deswegen ist Russland nicht isoliert, und deswegen
haben China, aber auch Südafrika und Brasilien Vorschläge für Verhandlungen vorgelegt.
Deswegen hat auch der russische Präsident in letzter Zeit wieder ganz deutlich gesagt, er sei bereit zu verhandeln. Und es gibt auch ein völkerrechtliches Gebot,
Konflikte und Kriege auf dem Verhandlungsweg zu lösen. Wir stehen auf der Seite der Verweigerer.
Es wäre gut, wenn die deutsche und europäische Politik sich mal angucken würde, was der Rest der Welt denkt und was das für die Sicherheit Europas bedeutet. Zu
meinen, dass wir mit Hochrüstung Sicherheit schaffen, ist in Anbetracht der gesamten Geschichte der Menschheit, auch der letzten 70 Jahre, ein Trugschluss.
▶ Frau Erler hat gerade gesagt, Russland sei bereit zu verhandeln. Aber ist das wirklich so? Es gibt zwar entsprechende Bemerkungen des russischen Präsidenten. Er
sagt aber auch, die entstandenen Realitäten müssten anerkannt werden. Und das heißt, die Gebiete, die Russland angegliedert wurden, bleiben russisch. Für die Ukraine ist das ja offensichtlich
keine Option. Sehen Sie also wirklich Verhandlungsbereitschaft bei den Russen?
Günter Verheugen: Verhandlungen mit Vorbedingungen sind sinnlos. Wenn jemand sagt, wir wollen jetzt verhandeln, aber
genau das und das muss dabei auf jeden Fall herauskommen, dann kann man das vergessen.
Man muss zu den guten alten Mitteln der vertraulichen Diplomatie greifen, Gesprächskanäle benutzen, die es ja offenbar immer noch gibt, und feststellen, ob man
einen Rahmen herstellen kann. Wer in der Öffentlichkeit unverzichtbare Bedingungen stellt für diesen Prozess, der sabotiert ihn in Wirklichkeit.
Ich glaube schon, dass Russland ein Interesse an einer Verhandlungslösung hat. Es kann ja nicht langfristig im russischen Interesse liegen, mit dem Westen in einem
Dauerkonflikt zu leben. Die Welt verändert sich ja nicht nur für uns, sie verändert sich auch für Russland. Und Russland ist genauso wie wir auf internationale Kooperation angewiesen. Also ich
glaube schon, dass da ein Interesse besteht.
Petra Erler und ich plädieren ganz entschieden für eine Rückkehr zur Entspannungspolitik. Ich war 1975 bei der Schlussakte von Helsinki schon Mitglied der deutschen
Delegation.
Ich habe diesen Prozess wirklich von Anfang an verfolgt. Wenn wir damals in der Lage waren, mit dem Breschnew-Regime eine vertragliche Vereinbarung zu treffen, die
uns für viele Jahre von der unmittelbaren Sorge eines Atomkrieges befreit hat, dann frage ich mich, warum sollen wir nicht in der Lage sein, mit Putin eine langfristige Vereinbarung zu treffen,
die darauf abzielt, unsere Kräfte zusammenzufassen und nicht gegeneinander ins Feld zu führen.
Petra Erler: Der Kern des Konfliktes ist ja nicht die Ukraine, sondern es geht darum, ob Russland in Europa eine
gleichberechtigte Stimme hat, ob wir bereit sind, elementare russische Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen.
Und deswegen war das Verhandlungsergebnis vom Frühling 2022 auch so interessant – was bei möglichen diplomatischen Kontakten niemand vergessen sollte. Russland
hätte sich aus dem Donbass zurückgezogen, es hätte über die Krim und ihre Zukunft Gespräche geführt.
Im Gegenzug dazu war festgelegt, wie viel Militär es in der Ukraine noch geben sollte, und dass die Ukraine neutral bleibt. Das war das, was Russland wollte. Das
bestätigen auch alle ukrainischen Verhandlungsteilnehmer.
Und das war uns nicht gut genug. Wir wollten es ausgekämpft haben, und das verändert natürlich die Natur des Kampfes. Das bedeutet, wir haben die Strategie
"Siegfrieden" und haben uns der ukrainischen Gesetzeslage angeschlossen, wonach mit Putin nicht verhandelt wird. Solange wir diese Gesetzeslage unterstützen, kann auch niemand im Westen mit Putin
verhandeln.
Auf der anderen Seite möchte ich zu bedenken geben, dass wir vor einem Scherbenhaufen des Vertrauens sitzen. Putin und Russland waren ja im Dezember 2021 mit
Verhandlungsvorschlägen gekommen, die die Nato ganz kühl abgebürstet hat. Sie mussten feststellen, dass wir beim Minsker Abkommen betrogen haben. Und heute, angesichts der vielen feindseligen
politischen Äußerungen, kann der Westen aus russischer Sicht gar nicht als Freund oder als akzeptabler Verhandlungspartner erscheinen.
Wenn wir Verhandlungen wollen und nicht in den nächsten 30 Jahren vor Angst zittern und uns, unsere Kinder und Enkel einmauern, dann müssen wir uns in unserer
Tonart mäßigen.
Aus der Geschichte gibt es ein Beispiel, wie auch hochideologisch verfeindete Länder zusammengearbeitet haben. Das war die Anti-Hitler-Koalition. Die hatte einen
gemeinsamen Feind, Hitlerdeutschland. Stalin, Roosevelt und Churchill konnten zu diesem Zweck miteinander kooperieren. Wenn ich überlege, was die heutigen gemeinsamen Feinde der Menschheit sind,
dann denke ich an die großen globalen Probleme.
Gast im Telepolis-Podcast waren Petra Erler und Günther Verheugen. Ihr Buch "Der lange Weg zum Krieg" ist im Heyne-Verlag München erschienen
Ob SPD oder Grüne: Die Gesellschaft wird rhetorisch derart nach rechts geschoben, dass die AfD nur frohlocken kann. Ein Gastbeitrag.
Ingar Solty
19.05.2024 05:50 Uhr
„Alternative gegen Deutschland“ titelte jüngst der Spiegel, mit Bezug auf mutmaßliche Zahlungen, die der AfD-Europa-Spitzenkandidat Maximilian Krah aus China erhalten haben soll. Ein Mitarbeiter Krahs wurde wegen Spionageverdacht fürdie Volksrepublik verhaftet. Der Spiegel erhob den
Vorwurf des „Landesverrats“.
Mal abgesehen davon, dass ganz allgemein auch Deutschland – nicht zuletzt über seine zahlreichen parteinahen Stiftungen – ausgiebig Akteure im Ausland finanziert
und dass seine Geheimdienste selbstverständlich spionieren: Wer als liberaler Antifaschist glaubt, es sei ein besonders cleverer Schachzug, heute den Begriff des
„Landesverrats“ gegen eine rechtsautoritäre Partei zu wenden, die behauptet, nationale Interessen zu verfolgen, der wird sich morgen wundern, dass er damit diese
illiberale und nationalistische Rhetorik wieder in der politischen Kultur der Bundesrepublik etabliert haben wird.
Linke können ohnehin die Uhr danach stellen, wann sich Strafverfolgung mit Landes- oder gar Hochverratsvorwürfen auch und vor allem wieder gegen sie wenden
wird. Schon in den kommenden Jahren dürfte jeden dieser Bannstrahl treffen, der auch nur leise Zweifel anmeldet und eine offene demokratische Diskussion darüber einfordert, ob Hochrüstung,
Deutschlands Nuklearbewaffnung, die einst allein von postfaschistischen Haudegen wie Franz Josef Strauss, heute aber mit einem frisch, fromm, fröhlich, freien „Ja zur Atombombe“ von Ulrike Herrmann bis JoschkaFischer gefordert wird, tatsächlich gute Ideen sind und ob eine neueBlockkonfrontation gegen China und die Entsendung der Fregatten „Bayern“ und
„Württemberg“ ins Südchinesische Meer, damit sie dort – wie einst die Kreuzerdivision vor Kiautschou – „Flagge zeigen“ für „unsere Werte undInteressen“, wirklich dazu beitragen, den Frieden in der
Welt zu sichern und globale
Menschheitsprobleme wie die soziale Ungleichheit und die Klimakatastrophe zu bewältigen.
Der Kampf fürs Vaterland
Die am 27. Februar 2022 ohne vorherige parlamentarische, geschweige denn breite gesellschaftliche Debatte von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)
verkündete „Zeitenwende“ – schon der Form nach ein demokratiepolitischer Skandal – ist in der Tat eine Zeitenwende auch dem
Inhalt nach. Sie wendet die Zeit, aber nicht in eine goldene Zukunft; sie dreht die Uhr zurück in die düstere deutsche Vergangenheit.
Bei der inneren Zeitenwende geht es zurück in eine Zeit der Soldatendenkmäler, damit eine
„glückssüchtige Gesellschaft“ (Joachim Gauck, damals Bundespräsident) wieder lerne, die im Kampf fürs Vaterland am Hindukusch
Gefallenen als Helden zu verehren. Es geht zurück in die Zeit der „Pflichtjahre“, mit der dieselben Leute, die im Rahmen der
„Agenda 2010“ und der Hartz-Gesetze einst Sprengsätze am sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft legten, heute wieder „Gemeinsinn stärken“ wollen und vergessen, dass es das „Pflichtjahr“ in der deutschen Geschichte schon einmal gab und wann und zu welchem
Zweck, nämlich demselben: ideologisch zu kitten, was wirtschafts- und sozialpolitisch zerbrochen wurde.
Die Abbrecherquote bei der Grundausbildung im Wehrdienst
Bei der inneren Zeitenwende geht es weiter um den Wiedereinbruch des Militärischen in die Schulen, wo die Kinder nach Ansicht von Bundesbildungsministerin Bettina
Stark-Watzinger (FDP) im Sinne eines
„unverkrampften Verhältnisses zur Bundeswehr“ und für „unsere Widerstandsfähigkeit“ zusammen mit Soldaten der Armee den Kriegsfall üben sollen und wo Jugendoffiziere der Bundeswehr als „Karriereberaterinnen undKarriereberater“ auf die Schüler losgelassen werden, um mit den aktuellen Rekordzahlen an Minderjährigen
im Kriegsdienst die allgemeinen Rekrutierungsprobleme der Truppe zu lösen. Aber klar, in Zeiten angespannter Arbeitsmärkte reicht die reine Wehrpflicht aus ökonomischen Gründen, die die
Amerikaner „economic draft“ nennen, und die an die Stelle der „Bürger in Uniform“ die „Prekarier in Uniform“ und eine
„Unterschichtenarmee“ (Michael Wolffsohn) setzte, in der Ostdeutschland zwar keine Generäle, aber nach dem Motto
„Arbeitslosoder Afghanistan“ fast zwei Drittel der Soldaten im
Kriegseinsatz stellte, nicht mehr aus, um bis 2031 das erklärte Ziel eines 203.000 Soldaten starken Heeres zu erreichen.
Auch die angeworbenen EU-Ausländer sind bislang ausgeblieben, weil die südeuropäische
Jugendarbeitslosigkeit eben nicht mehr 50 Prozent oder mehr beträgt wie noch zu Eurokrisenzeiten. Hinzu kommt die Abbrecherquote bei der Grundausbildung. Sie ist eklatant hoch, weil die Realität beim Kommiss nun einmal herzlich wenig mit dem Bild zu tun hat, das die jährlich 35
Millionen verschlingende Armeewerbung an Straßenbahnen, Bushaltestellen und auf YouTube verspricht: Kameradschaft,
Rumschrauben an geilen PS-strotzenden Karren, Kriegals Gaming
(bloß ohne Resetknopf), Weltreisen, Weltrettung, Lebenssinn. Neue Soldaten jedoch braucht das Land angesichts der Rekordzahlen nachträglicher Verweigerungen bei Reservisten, deren Lust, sich fürs Vaterland zusammenschießen zu lassen, offenkundig gering ist – untertroffen nur noch von den Anhängern der
Grünen, die Umfrage auf Umfrage zwar stabil Waffen und
Kriegsdienst für Ukrainer und andere fordern, aber von denen nach einer Forsa-Umfrage nur 9 Prozent bereit wären, Deutschland auch
persönlich mit der Waffe zu verteidigen.
Zeitenwende: Ein neues Feindbild heraufbeschwören
Die innere Zeitenwende bringt indes das Militärische nicht nur in die Schulen zurück, sondern auch an die Universitäten, wo Regierung und konservative Opposition unter dem Jubel linksliberaler
Medien gegen das verpflichtende Friedensgebot im Grundgesetz
verstoßen und die Zivilklauseln aushebeln wollen, die es als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg bislang verboten haben, Forschung und Wissenschaft in den Dienst der Rüstungskonzerne zu stellen. In
Nordrhein-Westfalen ist das mit den Stimmen von CDU und FDP längst geschehen.
Innere Zeitenwende meint auch die Rückkehr der Unterscheidung von „Gut“ (wir, naklar!) und „Böse“ (die anderen, was sonst?), von (westlicher) „Zivilisation“ und (östlicher) „Barbarei“, bloß das die Grenze vom „Ostproblem“
(Walther Harich) weiter nach Osten verschoben wurde und die Barbarei nicht schon an der Grenze zu Polen beginnt. Es ist die Rückkehr der „Erbfeinde“ (einst Frankreich, heute Russland und
China) und die Rückkehr der „Bürde des weißen Mannes“ (Rudyard Kipling) zur Zivilisierung der
Barbaren, die wieder am deutschen Wesen genesen sollen und sich – so jüngst Reinhard Bütikofer, außenpolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament, auf PHOENIX – sich „einfach von uns so verwandeln lassen“ müssen, „dass am Ende dann etwas rauskommt, was einfach den Vorstellungen entspricht, die man von uns
über das Land und darüber“ gehabt hat, „wie die Welt insgesamt organisiert sein soll.“
Längst gelten wieder Berufsverbote für die „inneren Feinde“
Die innere Zeitenwende ist auch die Rückkehr des ostentativen Unwillens, in geschichtlichen Kontexten und Kausalzusammenhängen zu denken und dabei auch die
Perspektive der „Feinde“ einzunehmen (um, wenn schon nicht Völkerverständigung zu befördern, wenigstens der Kriegseskalation vorzubeugen); ja, es ist die Rückkehr der medialen Ächtung bis hin zur
Unterstrafestellung des bloßen Versuchs, es zu tun. Innere Zeitenwende bedeutet die Rückkehr der „vaterlandslosen Gesellen“, die schon heute wieder als „fünfte Kolonne“ des Feindes
bezeichnet und vom Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit mit illiberaler Justiz und Polizeigewalt abgehalten werden, während für die Feinde von außen autoritäre Einreise- und Sprechverbote
erteilt werden, so wie dies jüngst der renommierten Philosophin Nancy Fraser und dem früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis widerfuhr. Innere Zeitenwende ist, wenn eine
Wissenschaftsministerin, sich auf einen Schmähartikel aus der Bild-Zeitung beziehend, massivste Polizeigewalt gegen friedlich protestierende Studentinnen und Studenten rechtfertigt. Und wenn ein
autoritärer Liberalismus, anstatt den Dialog zu suchen, seine Kritiker und die, die bloß ihre Bürgerrechte wahrnehmen, pauschal unter Verfassungsfeindverdacht stellt. Innere Zeitenwende ist, wenn
der Bundestag, wie vor zwei Jahren im Rahmen der Verschärfung von Paragraf 130 StGB und der „Holodomor“-Resolution geschehen, über Nacht Gesetze erlässt, die in erheblichem Maße die Freiheit
und den Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung einschränken und durch Kriminalisierung Gesinnungskonformismus produzieren, wo einst Historiker ergebnisoffen debattierten.
Längst gelten wieder Berufsverbote für die „inneren Feinde“, die man durch Gesinnungsprüfungen vom öffentlichen Dienst fernhält, wie beim
neuen „Radikalenerlass“ in Brandenburg. Migranten sollen, sofern sie sich nicht zur „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ und Staatsräson einer bedingungslosen Unterstützung des
israelischen Staates bekennen, egal, welche rechtsextremen Kräfte ihn gerade regieren und welche KI-gesteuerten Kriegsverbrechen er gerade begeht, nicht nur keine Staatsbürgerschaft erhalten, wie
dies der Bundestag Anfang des Jahres mit den Stimmen der Ampel beschlossen hat, sondern man will sie ihnen sogar bis zu zehn Jahre rückwirkend entziehen. Dies forderten
u.a. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und die Sozialdemokraten gegenüber Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft. Dass dieselben Akteure dann wenig später – nach Bekanntwerden
der sogenannten „Wannseekonferenz 2.0“ der AfD und des rechtsextremen Identitären-Chefs Martin Sellner – vor den Vertreibungsplänen von Rechtsaußen warnten und skandalisierten, dass der AfD-
Bundestagsabgeordnete Gerrit Huy auf dem Treffen für die doppelte Staatsbürgerschaft plädierte, um so Menschen mit Migrationshintergrund den deutschen Pass leichter entziehen zu können, bekam
dadurch ein Geschmäckle. Jedenfalls ergaben sich Glaubwürdigkeitsprobleme, wenn dieselben, die diese Pläne als rote Haltelinie bezeichnen, weil der Entzug der
Staatsbürgerschaft schließlich das Mittel der Nazis gewesen sei, ihre Gegner zu vertreiben, nun selber damit liebäugeln. Und die Empörung über die „Remigrations“-Träume der AfD, die schon
bei Björn Höckes Buch – ohne Frage – „Terror mit Ankündigung“ gewesen sind, wurde umso unglaubwürdiger dadurch, dass nur wenige Wochen zuvor die Ampelkoalition das europäische Asylrecht
geschliffen und Scholz im Rahmen der vom Spiegel begrüßten „neuen Härte in der Flüchtlingspolitik“ „Abschiebungen im großen Stil“ gefordert hatte.
Die Rückkehr zur Wehrpflicht und der Aktienkurs von Rheinmetall
Die innere Zeitenwende beinhaltet weiter, auch weil die Bevölkerung ihren Eliten über weite Strecken der Nachkriegsgeschichte nicht in Aufrüstung und Kriegseinsätze
zu folgen bereit war, die Rückkehr einer Agitation und Propaganda in staatlichen und privaten Medien, die – Feindbilder, Siegesgewissheit und Durchhalteparolen verbreitend – wenig mit vierter
Gewalt und viel mit Volkserziehung
zu tun hat. Dazu gehört die Schaffung eines inneren Kollektivs mit nationalen Mythen und einer „Leitkultur“, die ein in sozialer Ungleichheit auseinanderlaufendes
Land zusammenhalten sollen, eine allgemeine Renationalisierung und Militarisierung der Sprache und Beförderung emotionaler Verhärtung. Innere Zeitenwende ist, wenn etwa die auflagenstärkste
Zeitung in Deutschland den größten deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall – Aktienkurssteigerung seit dem Ukrainekrieg: +523 % – die Rückkehr zur Wehrpflicht fordern lässt, weil „die
Zeitenwende (…) eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ sei und „freiheitliche Gesellschaften (…) in der Lage dazu sein“ müssten, „für ihre Werte einzustehen“. Bleibt es bei diesem Tempo, dürfte im
Rahmen von Initiativen, wie dem von CDU und CSU geforderte „Bundesprogramms für Patriotismus“ unweigerlich auch der „Sedan-Tag“ fröhliche Urständ feiern, mit dem man im Kaiserreich den Sieg
über den damaligen Erbfeind feierte. Schon jetzt dürften in manchen Planstellen Überlegungen angestellt werden, wie ein – an sich nie wahrscheinlicher und heute immer unwahrscheinlicher
gewordener – militärischer Sieg über Russland angemessen in der kollektiven Erinnerung verankert werden könnte.
Geschichtsklitterung für die eigene Moral
Die vielen Artikel aus bürgerlich-liberalen Schreibstuben, die im Geiste eines „ohnmächtigen“ und „hilflosen Antifaschismus“ vor der AfD warnen oder gegen die
rechtsautoritären Nationalisten den Vorwurf des „Landesverrats“ erheben, merken dabei augenscheinlich nicht, dass jeder ihrer mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger geschriebene Artikel den
Rechtsextremen mindestens ein paar Hundert neue Wähler zutreibt, weil deren sich ohnmächtig fühlenden Wähler die Angst der Herrschenden spüren und zum Glauben verleitet sind, durch ein Kreuz bei
der AfD sich selbst zu ermächtigen und den verhassten Eliten eins auszuwischen. Aber während sie verkennen, dass sie – mit Brecht gesprochen – doch eigentlich nur wie die Kälber sind, die der
Trommel hinterhertrotten, für die sie das Fell selber liefern, verkennen die Liberalen vor allem eines: Es braucht für die Rückkehr der Gespenster der dunklen Vergangenheit keine Weidels und
Höckes. Sie selbst, die Liberalen, sind es, die sie beschwören.
Die „innere Zeitwende“ rehabilitiert in einer Weise Begriffe, Sprache, Politikstile und Mittel der nationalistischen und autoritären Rechten des späten 19. und
frühen 20.
Jahrhunderts, dass es dafür einer AfD gar nicht bedarf. Zurück ist die „nationale Sicherheit“, in deren Namen internationales (Investitions- und Handels-)Recht und
das Völkerrecht, auf das man sich sonst gelegentlich beruft, gebrochen wird. Wieder da sind „Staatsräson“, „Autarkie“, die heute „De-Risking“ heißt, Hochrüstung und die Aufforderung zur
„Kriegstüchtigkeit“, denn sonst steht, na klar, „in fünf bis acht Jahren“ der Russe bei dir im Keller. Wieder wird vor „Kriegsmüdigkeit“ im Volk gewarnt, finden öffentliche Gelöbnisse und
Militärparaden vor Landesparlamenten statt und markiert eine „neue Lust auf Helden“ die Rückkehr des „heroischen Denkens“, das über den – an Verdun und den Ersten Weltkrieg gemahnenden und nicht
zu gewinnenden – Stellungs- und Abnutzungskrieg in der Ukraine sagt: „das Gemetzel ist notwendig“. Entstanden ist ein neuer Gewaltkult, der – vollkommen geschichtsvergessen – nach innen nie zuvor
gesehene Ausmaße der Gewalt von Jugendlichen mit Silvesterböllern beklagt, während er nach außen selbst nur noch die Sprache der Gewalt vorlebt und ausschließlich die Logik des Militärischen
kennt. Auf einmal wieder da ist eine politische Kultur des „Wer nicht hören will, muss fühlen“, deren Losung „Waffen, Waffen und nochmals Waffen“ ist und in der liberale Journalisten und ein
grüner Wirtschaftsminister wie einst die Pimpfe vom Deutschen Jungvolk für die technischen Daten der allerneuesten Waffen-Systeme der Rüstungskonzerne schwärmen, um dann anschließend wie Ego
Shooter vor der Mattscheibe Kill Counts gegen die als „Orks“ entmenschlichten Feindsoldaten zu feiern und sich am Töten von Russen aus Weltrekordentfernung zu weiden. Kurz: das alles kehrt in
Worten und Taten des „liberalen“ Bürgertums zurück, dafür braucht es gar keine Nazis.
Der Sowjetunion wird Mitschuld am Zweiten Weltkrieg gegeben
Es braucht sie nicht, um „Veteranentag“ und Heldendenkmäler für Gefallene einzuführen oder für die Forderung nach „Wehrkunde im Schulunterricht“. Es braucht sie
nicht, um Holocaust-Mittäter wie Stepan Bandera
zu Freiheitskämpfern umzudeklarieren. Und es bedurfte auch keiner Faschisten mit Trademark und Copyright für den beispiellosen Geschichtsrevisionismus und die
monströse Holocaustrelativierung, die Wladimir Putin mit Hitler gleichsetzt und den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine mit Hitlerdeutschlands Vernichtungskrieg im Osten, dessen
Ziel im Rahmen des „Generalplan Ost“
bekanntlich die Versklavung der Ostvölker und Vernichtung ihrer gesamten gesellschaftlichen Elite – wenigstens 30 Millionen Menschen – durch systematische Massaker
an Unbewaffneten („Kommissarbefehl“) und systematisches Verhungernlassen (wie während der Leningrad-Blockade mit mehr als einer Million Ziviltoten) war und aus dem sich auch der Plan zur
systematischen Ermordung des europäischen Judentums ergab.
Während Liberale es lieben, auf X (ehemals Twitter) vom „Putler“ zu sprechen, war es mit Berthold Kohler ein FAZ-Herausgeber, der sogar noch vor Bekanntwerden des
russischen Kriegsverbrechens von Butscha den Begriff „Vernichtungskrieg“ für den Ukrainekrieg nutzte, selbstverständlich in vollem Bewusstsein, dass er damit Russlands Krieg gegen die Ukraine,
den nach UN-Angaben in mehr als zwei Jahren mindestens 10.810 Zivilisten mit dem Leben bezahlt haben, gleichsetzt mit dem „Russlandfeldzug“ der Nazis, die in unter vier Jahren 27 Millionen
Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger aus der Ukraine, Belarus und Russland töteten, etwa die Hälfte davon Zivilistinnen und Zivilisten. Dabei war es das Europäische Parlament, das vor vier Jahren
mit den Stimmen der Liberalen und im Geist der NPD und des Geschichtsrevisionismus von Ernst Nolte der Sowjetunion die (Mit-)Schuld für den Zweiten Weltkrieg gab, während die taz und die „Grüne
Jugend“ Höckes „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gleich in Eigenregie vollzogen, als die Berliner Tageszeitung unter dem Titel „Putin ist der neue Stalin“ ihrer grünalternativen
Leserschaft erklärte, „die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges“ sei, „dass Stalin diesen Krieg geplant hatte (…), lange bevor Hitler an die Macht kam“, und die „Grüne Jugend“ gleich
noch das „Unternehmen Barbarossa“ zum Höhepunkt der „Siedlungseroberung“ eines russischen „Kolonialstaats“ erklärte und damit den Nazis und ihrer für sich reklamierten „europäischen
Sendung“ zur Befreiung der „Ostvölker“ die rückwirkende Legitimation erteilte.
Ursula von der Leyen küsst „Post-Faschistin“ Meloni
Im Übrigen bedarf es auch für einen antifeministischen Rollback keiner rechtsextremen Incel- und „Männerbewegung“. Als Björn Höcke vor sieben Jahren bei Pegida
in Dresden eine unverweichlichte „Männlichkeit“ als Voraussetzung von „Wehrhaftigkeit“ forderte, wurde er als ewiggestrig gescholten. Im Zuge der „inneren Zeitenwende“ kommen dieselben
Forderungen aus der sogenannten bürgerlichen Mitte, wenn zum Beispiel der Literaturwissenschaftler, SZ- Redakteur und Theodor-Wolff-Preisträger Tobias Haberl („Der gekränkte Mann“) im Spiegel
aufklärte, der „deutsche Großstadtmann“, der „kochen kann“, sei mit seinen
„gepunkteten Socken“ „zu weich für die neue Wirklichkeit“, weswegen ein Zurück zur
„nötigen Härte“ und der „Streitkultur seiner Väter“ fällig sei, denen – aber ja nur zu unserem Besten! – regelmäßig die Hand ausrutschte, weil sie eben noch
wussten, dass sich „nicht jedes Problem wegdiskutieren lässt“.
Es sind Liberale, für die es zur neuen Normalität gehört, ihre Gegner wie Kritiker von (einseitigen) Waffenlieferungen als „Lumpenpazifisten“,
„gewissenlose“ „Unterwerfungspazifisten“, „Friedensschwurbler“, „Putins willige Helfer“ oder gleich als „Totengräberinnen der Ukraine“ und „Secondhand-Kriegsverbrecher“ zu bezeichnen. Es
sind Liberale, die jetzt schon für die Zeit nach dem Ukrainekrieg rüsten und fordern, der „Pazifismus darf nicht wieder auferstehen“. Es war die liberale Zeit, die am 80. Jahrestag der „Wollt ihr
den totalen Krieg?“-Rede von Joseph Goebbels das Interview einer linken Liberalen, Eva Illouz, betitelte mit: „Ich wünsche mir einen totalen Sieg“, um diese dann unter dem Jubel des tagaus tagein
die Trommel rührenden Perlentauchers, ausführen zu lassen, dass sie sich diesen „totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine“ wünsche, „weil die Russen täglich Verbrechen gegen die
Menschlichkeit verüben, die nicht ungesühnt bleiben dürfen“ und „weil Putin die ideellen Werte Europas bedroht.“ Kurz, für all das braucht es keine extreme Rechte. Dieselben Leute, die heute die
Konservativen davor warnen, als Lehre aus der Geschichte von 1933 ja nicht die „Brandmauer“ einzureißen, während sie, wie Ursula von der Leyen, in Europa die „Post-Faschistin“ Meloni küssen,
wo sie sie treffen, bemerken gar nicht den Flammenwerfer in der eigenen Hand, mit dem sie das Land längst angezündet haben.
„Waffen, Waffen und nochmals Waffen“
Dabei muss auffallen, dass es eben nicht nur ewiggestrige Konservative von der „Stahlhelm-Fraktion“ sind, sondern gerade der „linke“ Flügel des Bürgertums, der
sich in Sachen innere Zeitenwende besonders ins Zeug legt. Sicher, es war der CDU/CSU-Außenminister im Wartestand, Roderich Kiesewetter, der vor wenigen Wochen forderte, dass der „Krieg nach
Russland getragen werden“ müsse und man „alles tun“ sollte, dort nicht nur „russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere“ oder „Ölraffinerien“, sondern auch „Ministerien“ „zu
zerstören“. Aber der liberale Extremismus, der sich dadurch auszeichnet, dass er keine Rücksicht auf reale Gegebenheiten, Risiken und realistische Ziele nimmt, sondern in seinem auf
selbstgerechtem Moralismus fußenden Fanatismus gegen den „Totalitarismus“ selber totalitäre Züge an den Tag legt und keine Mittelbeschränkung zur Erreichung seiner Ziele erkennen lässt, hat seine
Ursprünge letztlich in einem bis heute ungebrochenen Avantgardismus der Ex-Maoisten in der Partei Die Grünen.
„Kriegstüchtigkeit“ wiederum forderte ein sozialdemokratischer „Verteidigungsminister“. Bei den Forderungen nach pauschal weiteren 100, 200, 300 Milliarden
Euro für die Bundeswehr bei gleichzeitigen Sozialkürzungen, versteht sich, war Roderich Kiesewetter bloß das Echo der SPD-Politiker Scholz, Eva Högl, Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, und
Pistorius. Vor „Kriegsmüdigkeit“ wiederum warnte eine grüne Außenministerin, die sich zu Karneval gerne als „Leopard“-Panzer verkleidet hätte und sich im Ergebnis eines tief blicken
lassenden Freud’schen Versprechers längst „im Krieg mit Russland“ sieht. Es war der grüne Wirtschaftsminister, der bei Maybrit Illner über die Panzerhaubitze 2000 ins Schwärmen geriet: „Die
kann richtig was!“. Es war die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die auf die Frage der „heute-Show“, ob sie denn gedient habe, antwortete, sie sei „gut
für den Volkssturm“. Und die Forderung nach „Waffen, Waffen und nochmals Waffen“ wiederum stammte ebenfalls von einem grünen Bundespolitiker, in diesem Fall Anton Hofreiter, der auch
systematisches Aushungern wieder zum Prinzip deutscher Machtpolitik machen will. Als Beispiel für die von ihm markig geforderte Außenpolitik, die – im Geist von „Blut und Eisen“ und „Macht ist
das größte Aphrodisiakum“ – endlich wieder „mit dem Colt auf dem Tisch verhandel(t)“, schlug er im Dezember 2022 im Interview mit der „Berliner Zeitung“ vor, mit der Kornkammer Ukraine am Wickel
zukünftig 1,4 Milliarden Chinesen – denn womöglich „wagt“ es mal wieder einer von ihnen, uns Deutsche „scheel anzusehen“! – offen den Hungertod anzudrohen: „Wenn uns ein Land Seltene Erden
vorenthalten würde, könnten wir entgegnen: ‚Was wollt ihr eigentlich essen?‘“.
Bürgerliche Mitte: In atemberaubendem Tempo nach rechts
Es sollte also auch nicht verwundern, dass es das linksliberale Bürgertum ist, das heute öffentlichkeitswirksam seine Geisteshaltung korrigiert und durch
symbolische Gelübde seine Loyalität zum Vaterland beweist, als wäre es noch einmal August 1914. Die Liste derjenigen, die es für nötig hielten, symbolisch ihre Wehrdienstverweigerung
zurückzuziehen und den Fahneneid auf die Nation in Waffen zu schwören, ist lang. Sie reicht von Scholz und dem „grünalternativen“ Wirtschaftsminister Robert Habeck über gealterte Intellektuelle,
Journalisten und Schriftsteller wie Ralf Bönt („Das entehrte Geschlecht“), Stern-Redakteur Thomas Krause und den taz-Redakteur Tobias Rapp bis zu anderen Personen des öffentlichen Lebens wie dem
evangelischen Bischof Ernst-Wilhelm Gohl, dem Komiker Wigald Boning und dem „ewigen Hofnarr“ Campino von der bekannten Schlagerband „Die Toten Hosen“. Vor diesem Hintergrund war es auch nur
folgerichtig, dass Rapp als ehemaliger Redakteur und bis heute Mitherausgeber der „linksradikalen“ Jungle World jüngst im Spiegel auch den „Veteranentag“ begrüßte als einen „großen
Schritt weg von alten Lebenslügen“: „Eine Gesellschaft“ könne nun „sagen: Wir können die Last nicht von euren Schultern nehmen, die es heißt, gekämpft und möglicherweise getötet zu haben.
Aber wir können euch einmal im Jahr eine Bühne geben und an diese Last erinnern. Es war nicht sinnlos.“
Es war Theodor W. Adorno, der einmal schrieb, er habe weniger Angst vor der extremen Rechten als vor der rechten Radikalisierung der „Mitte“, vor der Rückkehr des
Nationalistischen, Autoritären und Faschistischen in der Sprache der Demokratie. Wer heute glaubt, die Rechte am besten mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können, von der Übernahme ihrer
Migrationspolitik, ihres Kulturkampfes und ihrer Begriffe und Politikmittel aus dem „Zeitalter der Katastrophen“ (Eric Hobsbawm), der betreibt ihr eigentliches Geschäft. Kurzfristig mögen die
Umfragewerte der AfD in Folge der Skandalisierung der Machenschaften ihres Spitzenkandidaten für die Europawahl heruntergehen. Langfristig mag man sich in der AfD zurücklehnen, weil man weiß:
„Rechts wirkt“. Das Land rast mit atemberaubendem Tempo in eine rechte Vergangenheit; aber im Führerstand stehen nicht Björn Höcke und Maximilian Krah, sondern die Liberalen selbst.
Ingar Solty ist Autor und lebt in Berlin.Im Herbst erscheint sein neues Buch „Der
BERLINER BOMBENNACHT 1943: ERLEBNISBERICHT EINER POSTBOTIN ALS WARNUNG VOR EINEM NEUEN KRIEG
„Berlin, den 23. November 1943, Angriffstag. Mein eigenes Erlebnis“, steht als Überschrift auf dem vergilbten
Schreibmaschinenblatt, die Buchstaben sind verblasst, ein Holzwurm hat sich durchs Papier genagt. Gleich darunter beginnt der Text:„Ich hatte einen schweren Arbeitstag hinter mir“, heißt es, „und nun saß ich wie an
jedem Abend vor meinem kleinen Radiogerät, um die Sendungen des Auslandes anzuhören. Somit war ich immer auf dem Laufenden, was in der Welt geschah, und was geschehen konnte. Eigentlich
war ich mächtig müde, aber wer konnte hier seit Wochen an Schlafengehen denken, wo Tag für Tag die Alarmsirenen heulten, und Tag für Tag die Menschen ärmer und ärmer wurden.“
Aufgeschrieben hat dies Gerda Deckwardt, die beinahe vergessene alte Dame, die vor mir hier in der Nostitzstraße in Berlin-Kreuzberg wohnte. Vor mittlerweile über drei Jahrzehnten
zog ich in ihre Wohnung ein – und in ihr Leben. Alles war noch da, Kleidung, Bücher, Medikamente, ein letztes Frühstück stand auf dem Küchentisch. Erst jetzt jedoch, vor wenigen
Wochen, kam – sonderbar schicksalhaft, fast wie gewollt – das Schreibmaschinenblatt zum Vorschein, in einer Zeit, in der deutsche Industrie und Politik Krieg erneut als Option sehen. Wer
warnt und Frieden fordert, wird allzu schnell öffentlich denunziert. Sorgsam in einen vergilbten Umschlag gefaltet, verbarg sich Gerdas Nachricht unter Nadeln, Knöpfen, Zwirn ganz unten
in ihrem Nähkästchen. Die Worte erscheinen wie ein Fingerzeig.
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Zwischen Nadeln, Knöpfen, Zwirn verbirgt sich ein Umschlag
„Kaum war es neun Uhr, als die Alarmsirenen heulten, und ich mich beeilen musste,
mein kleines Radiogerät einzupacken,denn das tat ich jeden Tag zur selben Stunde, da ich ohne Radio gar nicht sein konnte.Ich rannte förmlich die vier Treppen aus meiner Wohnung herunter und suchte einen sogenannten Luftschutzkeller auf. Der Keller lag
unter einem abgebrannten Haus, war aber am ehesten erreichbar von meinem Heim aus. Schreckliche Gedanken, in solch einem Loch aushalten zu müssen,
während die Herren, die den Krieg machten, in der Nähe hier die bestgesicherten Keller einnahmen. Ich weiß nur, dass mich so die Wut darum packte, dass ich, gleich im Keller angekommen, vor allen Menschen tobte, dass es uns so gehen muss, nur weil die Deutschen so zänkisch und so verkommen seien. Oftmals ist es mir wegen dieses Aufregens beinahe
schlecht ergangen, aber dessen ungeachtet, habe ich nie aufhören können, mich zu empören.“
Und weiter schreibt sie, „plötzlich aber kam Stille um uns herum. Draußen tobten die Bomber und die Wächter teilten uns
mit, dass hier alles herum ein Flammenmeer sei. Brandbomben ohne Zahl waren heruntergekommen. Alles schrie wild durcheinander, alte Frauen weinten, weil sie seit Langem schon keine Hoffnung mehr hatten. Drei
Stundenlang tobten draußen auf der Stadtmitte die Bomben, doch dann kam die Entwarnung, wobei alle Menschen aus dem Keller stürmten. Die, welche ihre Angehörigen hatten, fassten sich bei den Händen.“
1943 war Gerda Deckwarth Briefträgerin in Mitte, ihre Wohnung war in der Schützenstraße 14. Auf einem Foto aus der Zeit von ihr in Postuniform hat sie Reichsadler und Hakenkreuz auf ihrer Mütze mit Kugelschreiber
übermalt. Auf anderen Fotos aus unterschiedlichen Lebensphasen wirkt sie als junge Frau verträumt und hoffnungsvoll, später eher nachdenklich, dann introvertiert, einsam, still. „Tage, an
denen ich nur eine Mark als Geld besitze, keine Butter, kein Zipfel Wurst, keine Zigarette“, schreibt sie 1962 in ihr Tagebuch.
Mit dem Mauerbau wurde auch die Schützenstraße 14 erst von Stacheldraht umzäunt, dann abgerissen. Unterkunft fand sie bei ihrer Mutter hier in der
Nostitzstraße. 1991 starb sie, allein, ohne Angehörige. Sie war 86 Jahre alt. Ein entfernter Verwandter schlug das Erbe in Anbetracht anstehender Bestattungskosten aus. Ich war gerade aus
New York gekommen. „Nehmen sie die Wohnung, so wie sie ist – ungesehen!“, hieß es bei der Hausverwaltung. Mit einem Koffer und dem Schlüssel in der Hand zog ich ein. Im Wohnzimmer zeigten
Schatten an der Wand, dass Bilder fehlten, auf dem Teppich war eine Schmuckschatulle ausgekippt - ein Nachlassverwalter hatte nach Verwertbarem gesucht. Gerdas Fotoalbum und Tagebuch
lagen am Bett. Das Nähkästchen stand am Küchentisch. Ich räumte es in den Hängeboden – Nähen ist nicht mein Ding. Erst die Suche nach einem Knopf für die Vintage-Bluse einer Freundin,
brachte den Umschlag ans Licht. Aber lassen wir Gerda weitererzählen:
„Bis weit über den Vororten sah man dieses Flammenmeer“
„Ich selbst war ganz allein, denn meinen Mann hatten sie eingezogen in den Krieg, und lange hatte ich schon keine Post mehr.
Verbittert war mein Herz gegen alles, was den Krieg unterstützte, und ich drückte meine Finger zu einer Faust zusammen, und wünschte mir somit, dass ich wenigstens mein Heim behalten
kann. Als ich die Straße betrat, war ringsumher nichts als ein rotes züngelndes Feuer. Die Ortsmitte brannte ringsherum, bis weit über den Vororten sah man dieses
Flammenmeer.
Ich stürmte die vier Treppen bis zu meiner Wohnung herauf, doch auch hier waren die Brandbomben hereingeflogen und sechs
Brandherde drohten Gefahr zu bringen. Einige Männer waren schon dabei, zu löschen, und ich selbst schleppte vom Hofe Eimer für Eimer Wasser heran, bis die Herde gelöscht waren. Die Männer
verließen dann meine Wohnung, und ich war allein in meiner Wohnung. Alles war schwarz. Mauersteine, Holzstücke, Ruß und nochmals Ruß. Die Übergardinen waren verbrannt, die Fetzen hingen
an der fensterlosen Scheibe und pendelten hin und her, und ich sah hinaus in die rote leuchtende Nacht. Die Hitze nahm mehr und mehr zu, ich musste auf meinem Balkon stehen und immer
Wasser, nur Wasser auf die zischenden Mauern sprengen, damit das Feuer nicht eindringen konnte.
Dann plötzlich wieder Alarm, hundemüde, das Herz voller Traurigkeit, stürmte ich die Treppen wieder herunter und hinein in den
Keller und wieder kamen Brandbomben auf Brandbomben vom Himmel herab. Licht war schon längst nicht mehr in den Kellern vorhanden, nur kleine Kerzen erleuchteten den Raum. Die Wache
schreit dann plötzlich „alle heraus“, der Keller brennt. Und das mitten bei den Angriffen. Nun mussten wir alle gegenüber in einen Keller. Kein Mensch wollte das wagen, denn die ganze
Schützenstraße war hell erleuchtet durch die Brände, und die Flieger zum Greifen nahe über uns.
Ach, manchmal habe ich geglaubt, dass sie ein Herz haben müssten, und ich winkte oftmals mit den Händen als Zeichen, dass doch
auch wir ihre Freunde seien, im roten Feuerschein hatte man diese Flammen aber wohl nie sehen können.
Gerade als auch ich die Fahrstraße überqueren wollte, flog so eine Brandbombe dicht vor mir herab. Glück muss man haben, dachte
ich, und ich konnte das wohl behaupten, denn als ich ein Endchen wartete, kamen noch mehr solcher Dinger herab. Ich bin dann nicht mehr in den Keller gegangen, ich blieb vor dem Hause
stehen, stellte mich in Deckung und habe somit den Schluss des Angriffabends abgewartet. Wenig Menschen haben miterlebt, wie die Ärmsten der Armen wimmerten um ihr Heim, um ihre letzte
Habe. Manche tröstete ich, indem ich sagte, lassen Sie nur, es dauert ja nicht mehr lange. Aber was war schon ein Trost gegen dieses Leid.“
Manche Augenzeugenberichte enden mit „Heil Hitler“. Dieser nicht
„Wieder in meiner Wohnung angekommen, fand ich die Küche brennend vor. Wieder war ich allein, aber ich besaß die Kraft zu
löschen“, fährt Gerda fort. „So löschten wir in unserem Hause noch andere Brände und das ging bis zum Morgen um sieben Uhr weiter. Völlig verdreckt,
zum Umsinken ermüdet warf ich mich dann zwischen die Klamotten in meiner Wohnung, um ein bisschen zu schlafen. Der Brandgeruch und die Hitze hüllten mich ein, und ich schlief dann zwei
Stunden lang, nicht wie eine Dame, nein, richtig wie ein Tier.“
Erhalten sind auch andere Augenzeugenberichte – von dieser, wie von anderen Bombennächten –, erschreckend allerdings ist die Regimetreue. In so gut wie
allen, so zeigen Auswertungen, fehlt es an jeglicher Kritik, Selbstzweifel oder gar Schuldzuweisung, manche enden mit „Heil Hitler!“. Gerdas Bericht ist völlig anders. Er zeigt, dass sie,
die einfache Berliner Postbotin, ihren Gehorsam selbst in einer Zeit schlimmsten Unrechts, Lüge, Angst und Propaganda innerlich strikt verweigert hat. Vor ihrem Tod zum letzten Mal
gesehen habe man sie, hat mir eine Nachbarin erzählt, als sie bei einem Fest hier im Hof im zweiten Stock am offenen Küchenfenster stand und auf ihrer Ziehharmonika spielte. Treppen
konnte sie nicht mehr laufen. Ihre Bestattung auf einem der Friedhöfe an der Bergmannstraße war ein Armenbegräbnis. Ihr Grab ist längst verschwunden. Für uns aber hinterlassen hat sie
eine klare Botschaft. Und ja, liebe Gerda – wir hören dich, wir hören deine Warnung! Hier ihre letzten Sätze zum Erlebten:
„Am anderen Mittag habe ich nach Dienstschluss meine Umgebung näher besehen, aber was man vorfand, war alles trostlos. Doch
meine größte Freude war, dass die Bomben diesmal auch das Richtige getroffen hatten. Nämlich die Häuser jener, die den Krieg machten. Der 23. November brachte großes Leid unter die Armen
des Berlins, und doch einen Tag näher der Befreiung. Unvergesslich ist in meinem Herzen dieser große Feuerschein, der über Berlin lag, geblieben – nur so kann die Hölle
sein!“
Dr. Stefan Elfenbein ist Amerikaner und Deutscher, lebt in New York und Berlin und war von 1997 bis 2001 der USA-Korrespondent
der Berliner Zeitung.
Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und
Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.
Antikriegsinitiative Mörfelden-Walldorf: Die Postbotin Gerda gab es auch in Frankfurt am Main, Darmstadt, Mainz, Rüsselsheim und anderen im Krieg zerstörten
Städten. Vielleicht schlummern in so manchem Kästchen heute noch Briefe dieser Art.